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»Wirtschaft und Gerechtigkeit«: Wirtschaftliche Gerechtigkeit, naturwissenschaftlich betrachtet

Der Autor entwickelt eine naturwissenschaftlich begründete Sicht auf die Gerechtigkeitsfrage; für den Rezensenten ist allerdings einiges zu abstrus.
Ein Richterhammer auf einem Tisch vor düsterem Hintergrund.

Eigentlich ist die Frage der Gerechtigkeit hoch umstritten, weil sie äußerst komplex ist. Platon entwirft einen idealen Staat, um sie zu bestimmen. Die neoliberale Wirtschaftstheorie hält sie für überflüssig, weil der Markt zumindest in ihrem Modell von selbst die angemessenen Ergebnisse erzielt. Soziale Gerechtigkeit, also Verteilungsgerechtigkeit, gibt es für den Neoliberalismus nicht.

Dagegen richtet sich das Buch des praktischen Arztes und BWL-Professors in Essen, Christian Thielscher: Die Wirtschaftswissenschaften analysieren nicht, wie die Märkte im Detail funktionieren.

Dazu müssten sich die Wirtschaftswissenschaften nämlich an der Vorgehensweise der Medizin orientieren, die auf Anatomie und Physiologie beruht: Jene müssen empirisch die Struktur und die Funktionsweise von Märkten in den verschiedenen Branchen analysieren. Dann würde schnell klar werden, was gerecht und ungerecht ist, ähnlich wie in der Medizin für Thielscher klar bestimmt ist, was eine Krankheit ist und welche Medizin sie braucht. Wenn das nicht wirkt, merkt es der Patient umgehend. Medizin beruht auf empirischem Wissen und sieht sich mit harten Fakten konfrontiert. Sie erfasst damit die Realität und in der Wirtschaft liegt dieselbe vor, die man nicht verleugnen darf.

Stattdessen vertreten die Wirtschaftswissenschaften weit gehend die Interessen des Kapitals, schaffen extreme Ungerechtigkeiten und schädigen das Klima. Thielscher präsentiert sich dagegen als Vertreter eines solidarischen Sozialstaates.

Viele Neoliberale betrachten die Idee der sozialen Gerechtigkeit aber nur als ein ideologisches Konstrukt. Doch das Gerechtigkeitsgefühl, das alle Menschen beseelt, ist keine Erfindung, sondern eine Anlage des Menschen, die sich naturwissenschaftlich und medizinisch beweisen lässt, nämlich durch die Gehirnforschung, durch Verhaltensbiologie, durch die Evolutionstheorie im Abgleich mit der Primatenforschung. So zeigen bereits kleine Kinder in höherem Maße als Menschenaffen ein Gerechtigkeitsgefühl.

Aber was ist Gerechtigkeit? Für Thielscher besteht sie aus drei simplen Prinzipien, nämlich dass man Hilfsbedürftigen helfen, gleiche Leistung gleich belohnt werden und man Verträge einhalten muss. Außerdem sind vier Elemente beteiligt: der Verteilende, zum Beispiel der Machthaber, der dazu die Regeln festlegt; das zu Verteilende, etwa medizinische Leistungen; die Leistungsempfänger; das soziale Umfeld, in dem verteilt wird. So einfach ist das, und lange philosophische Debatten braucht es nicht.

Schwierigen Problemen begegnet Thielscher mit Gleichnissen. Darf man einen Unschuldigen opfern, um einige zu retten? Fünf Patienten sterben in Kürze, wenn sie kein neues Organ bekommen, und ein anderer hat dazu die genau passenden fünf verschiedenen. Eine Straßenbahn gerät außer Kontrolle und wird fünf Menschen töten. Man steht auf einer Brücke und könnte das verhindern, indem man ein Gewicht von der Brücke wirft, und neben einem steht ein entsprechend dicker Mann.

Mit diesem Verfahren begegnet Thielscher auch dem Problem der Abtreibung. Eine Entführte wacht neben einem Starviolinisten auf, mit dem sie durch Schläuche verbunden ist, durch die sie diesen rettet, wenn das neun Monate so bleibt. Aber Frauen bieten sich freiwillig beim Sex an, einem neuen Leben ihren Körper zur Verfügung zu stellen. Alternative wäre für Thielscher Enthaltsamkeit.

Allemal muss man sich wundern, mit was für abstrusen Exempeln in diesem Buch argumentiert wird. Auch weil Thielscher genau weiß, was in der Welt passiert und wie man dem begegnen muss, darf ich vor der Lektüre dieses Buches eher warnen.

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