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Coronavirus-Pandemie: Wie schön, euch nicht zu sehen

Zu Hause bleiben, direkten Kontakt meiden – das ist derzeit angesagt. Weil sich zu wenige daran halten, gibt es nun Ausgangsbeschränkungen. Mancher mag den Sinn bezweifeln. Doch so lassen sich Gesundheitssysteme vor dem Kollaps bewahren.
Die Königsstraße in Stuttgart menschenleer

Das Virus Sars-CoV-2 und die davon ausgelöste Krankheit Covid-19 haben den Alltag der Menschen grundlegend geändert. Und das ziemlich rasch. Gewöhnliche Umgangsformen – ausgehen, Zeit mit Freunden und Familie verbringen oder in den Urlaub fahren – gelten nun als riskantes Verhalten. Die Gesundheitsbehörden raten dringend, Abstand von anderen Menschen zu halten – mindestens anderthalb Meter –, sich regelmäßig und ausgiebig die Hände mit Seife zu waschen, sich nicht ins Gesicht zu fassen, möglichst keine persönlichen Kontakte zu pflegen und zu Hause zu bleiben. Das fällt nicht leicht, ist aber sinnvoll.

Weil zu viele Menschen nicht mitmachen, haben die Ministerpräsidenten einiger deutscher Bundesländer am Freitag Ausgangsbeschränkungen verhängt. So gilt in Bayern und dem Saarland ab Samstag ein weit gehendes Ausgangsverbot, in Baden-Württemberg sind Versammlungen mit mehr als drei Menschen in der Öffentlichkeit untersagt – Verstöße würden mit einem Bußgeld von bis zu 25 000 Euro und mehrjährigen Haftstrafen geahndet werden, teilte die Landesregierung mit.

Doch haben derlei Verbote überhaupt einen Effekt? Niemand weiß mit Sicherheit, wie die staatlichen Maßnahmen und neue Verhaltensregeln auf lange Sicht wirken werden. Epidemiologen aber haben diverse Szenarien simuliert. Damit liefern sie eine Vorstellung, wie die Zahl der Erkrankten steigen und wann ein Pik erreicht sein wird. Auch haben sie berechnet, wie viele Menschen an Covid-19 gemessen am Verhalten der Bevölkerung sterben könnten.

Wie tödlich ist das Coronavirus? Was ist über die Fälle in Deutschland bekannt? Wie kann ich mich vor Sars-CoV-2 schützen? Diese Fragen und mehr beantworten wir in unseren FAQ. Mehr zum Thema lesen Sie auf unserer Schwerpunktseite »Ein neues Coronavirus verbreitet sich weltweit«.

Die Epidemie eindämmen oder ersticken?

Der renommierte Epidemiologe Neil Ferguson vom Imperial College London hat mit seinem Team Modellrechnungen für zwei Szenarien durchgeführt: die weit gehende Eindämmung der Epidemie sowie das vollständige Ersticken einer Ausbreitung. Beide Modelle spielten die britischen Forscher am Beispiel des Vereinigten Königreichs und der USA durch. Die meisten Experten beurteilen die Simulationen als sehr plausible Prognosen.

Fergusons Fazit: Wenn die gesamte Bevölkerung direkten Kontakt vollständig vermeidet (Social Distancing), ließe sich eine Epidemie aufhalten. Jedoch nur in Verbindung mit weiteren Maßnahmen: Schließungen von Schulen und Universitäten würden den Effekt enorm stützen. Erkrankte Menschen müssten isoliert und alle Personen in deren Haushalt unter Quarantäne gestellt werden. Epidemiologen sprechen in diesem Szenario von einer Ausbreitung R unter 1. R steht für die effektive Reproduktionszahl. Dieser Parameter zeigt an, wie viele Menschen von einer infizierten Person im Durchschnitt angesteckt werden.

Warum Social Distancing funktioniert

Der Versuch, auf Zeit zu spielen, indem man die Hauptrisikogruppe der Älteren von der Umwelt abschirmt und Erkrankte samt deren Familie in Quarantäne steckt (flatten the curve), würde eine Epidemie zwar bremsen, Menschenleben retten und eine gewisse Herdenimmunität in der Bevölkerung schaffen – dennoch würde das Gesundheitssystem in kurzer Zeit kollabieren, weil zu viele Patienten auf einmal versorgt werden müssten. Ferguson berechnet, dass in diesem Szenario ungefähr 250 000 Menschen in Großbritannien und zirka 1,2 Millionen Menschen in den USA an Covid-19 sterben könnten. Die Kurve abzuflachen, reiche nicht mehr aus. Die beste Strategie sei laut Ferguson: keine Sozialkontakte, Isolation von Kranken und ihres Haushalts, Schulschließungen.

»Die entscheidende Maßnahme ist neben den schon etablierten Infektionskontrollstrategien, auch in der gesamten Bevölkerung eine Einschränkung der sozialen Kontakte auf das Notwendigste zu erreichen«Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie

Doch wie lange müssten Menschen unter verschärften Bedingungen – daheim ohne das gewohnte soziale Kontaktverhalten – ausharren? Ferguson ist der Ansicht, dass sich die Krankheit erneut ausbreitet, sobald die Maßnahmen gelockert werden würden. Es dürfte also so lange keine persönlichen Begegnungen mehr unter Menschen geben, bis ein Impfstoff gefunden ist. Ungefähr 12 bis 18 Monate. Man müsse daher auch abwägen, wie lange strenge Verhaltensregeln gelten sollen und ob sie gelockert würden – denn dauerhaft daheim zu bleiben, belastet Menschen, kann sie vielleicht sogar aggressiv machen.

China gilt als gutes Vorbild

Einige Forscher widersprechen: Wenn Ausgangssperren und strikte Quarantäne aufgehoben sind, breche die Epidemie nicht wieder ungebremst aus. So sieht etwa Chen Shen von der unabhängigen US-Forschungseinrichtung New England Complex Systems Institute in Cambridge am Beispiel China das Gegenteil erwiesen. Während einiger Wochen Ausgangssperre seien sämtliche Infizierten und ihre Kontakte lokalisiert und in Isolation behandelt worden. Tatsächlich sind in China seit Donnerstag keine neuen Infektionen aufgetreten. Alle neu Erkrankten seien Einreisende gewesen. Ein weiterer Ausbruch lässt sich laut Chen aber unterbinden, wenn solche Menschen zunächst unter Quarantäne gestellt werden würden.

Die Medizinerin Mirjam Kretzschmar von der Universitätsmedizin in Utrecht hingegen teilt Fergusons Fazit. Gegenüber dem Informationsdienst Science Media Center sagt sie: »Die Aussage, dass das Virus zurückkommt, wenn die Maßnahmen gelockert werden, ist vollkommen klar und plausibel.« Ihres Erachtens seien nämlich noch nicht genügend Menschen immun gegen das Sars-CoV-2.

Laut Kretzschmar würden Fergusons Modelle im Wesentlichen mit den Ergebnissen anderer Studien übereinstimmen. Die Epidemiologin aus Utrecht hat mit ihren Kollegen einfachere Modelle durchgerechnet. Sie kamen ebenfalls zu dem Schluss, dass die Isolation von Erkrankten und die Quarantäne von Kontaktpersonen »unter realistischen Bedingungen die Epidemie nicht eindämmen können; dass also kontaktreduzierende Maßnahmen absolut notwendig sind«, so Kretzschmar.

Modellrechnungen zu verschiedenen Strategien haben auch die beiden Mathematiker Thomas Götz von der Universität Koblenz-Landau und Wolfgang Bock von der Technischen Universität Kaiserslautern aufgestellt. Sie leiten aus ihren Forschungen folgende Faustregel ab: »Je stärker die Maßnahmen, desto schneller kommt man durch die Krise.«

Wie viele Menschen haben sich neu angesteckt? | Die »Sieben-Tage-Inzidenz« gibt an, wie viele Neuinfektionen es in den letzten 7 Tagen pro 100.000 Einwohner gab. Stecken sich zu viele Menschen an, sollen die Landkreise Schutzmaßnahmen ergreifen.

Welche Strategie zu Deutschland passt

Ferguson und sein Team haben für ihre Modelle die Gesellschaftssituationen in den USA und im Vereinigten Königreich zu Grunde gelegt. Ob die Resultate auch für Deutschland gültig sind, sei fraglich, sagen Götz und Bock. So stünden beispielsweise in Deutschland dreimal mehr Intensivbetten zur Verfügung als im Vereinigten Königreich; das würde die Lage entspannen.

Wie die Situation für Deutschland aussehen könnte, dazu hat die Deutsche Gesellschaft für Epidemiologie am Donnerstag ihre Berechnungen in einer Stellungnahme veröffentlicht. Würden keinerlei Maßnahmen ergriffen werden, erkrankten zirka 50 bis 70 Prozent der deutschen Bevölkerung. Bei dieser Belastung würde selbst das hiesige Gesundheitssystem innerhalb kurzer Zeit zusammenbrechen. Es gilt ja nicht nur Coronavirus-Patienten zu behandeln, sondern auch all jene anderen Kranken: Menschen mit Herzinfarkten oder fortgeschrittenem Krebs beispielsweise. Selbst wenn man versuche, die Epidemie zu verlangsamen, also die Situation beibehält, wie sie momentan noch auf weite Teile Deutschlands zutrifft, würde das zu einem Kollaps des Gesundheitssystems führen.

»Je stärker die Maßnahmen, desto schneller kommt man durch die Krise«Thomas Götz, Universität Koblenz-Landau, und Wolfgang Bock, Technische Universität Kaiserslautern

Ebenso wie es Neil Ferguson für die USA und Großbritannien rät, halten die deutschen Epidemiologen die völlige Kontaktsperre für die beste Strategie: »Die entscheidende Maßnahme ist hierbei, neben den schon etablierten Infektionskontrollstrategien (zum Beispiel Senkung der Übertragungswahrscheinlichkeit durch konsequente Händehygiene, Isolation von infizierten Personen, Quarantäne von Kontaktpersonen) auch in der gesamten Bevölkerung eine Einschränkung der sozialen Kontakte auf das Notwendigste zu erreichen«, heißt es in der Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie. Gingen die Neuinfektionen dann tatsächlich zurück, müsste zudem sichergestellt werden, dass die Krankheit nicht durch Einreisende erneut eingeschleppt würde.

Bessert sich die Lage in Österreich?

Andere Länder, andere Bedingungen – aus dem benachbarten Österreich vermelden Wissenschaftler um Niki Popper von der Technischen Universität Wien Folgendes: Sie hatten vergangene Woche berechnet, wie sich die Ausbreitung entwickeln würde, wenn Menschen sich kaum noch persönlich treffen würden. Die Prognose besagte, es gebe zwar weiterhin mehr Infizierte, doch das Virus würde sich deutlich langsamer ausbreiten. Und tatsächlich: Zu Beginn der Covid-19-Epidemie in Österreich hatten sich die Fallzahlen alle zwei bis zweieinhalb Tage verdoppelt. Nun liegt der Wert bei vier bis sechs Tagen. In Österreich gilt bereits seit 16. März 2020 eine Ausgangssperre.

Weil die meisten Österreicher sich an die Vorgaben gehalten hätten, sagt Popper, ist genau das eingetreten, was wir für diesen Fall vor einer Woche berechnet hatten: »Die Zahl der Covid-19-Fälle steigt zwar noch, aber der tägliche prozentuale Anstieg hat sich reduziert.«

Man sei auf einem guten Weg, sagt Popper weiter. Ein schnelles Ende der Epidemie sieht der Wiener Mathematiker jedoch nicht kommen. Der Erfolg der Strategie des »Social Distancing« hinge auch davon ab, dass gleichzeitig möglichst viele Menschen auf das Virus getestet werden, um so die Erkrankten rasch ausfindig zu machen und in Quarantäne versorgen zu können – »entscheidend sind am Ende gemessene Zahlen, nicht Prognosen«, sagt Popper.

Angst und Zuversicht

In einer aussagekräftigen Umfrage des COSMO-Konsortiums unter ungefähr 1000 Menschen in Deutschland sagten diese Woche 71 Prozent der Befragten, dass sie sich über das Coronavirus Gedanken machen würden. Die Woche zuvor waren es 52 Prozent. Die Epidemie bereitet also immer mehr Menschen Sorge. Das ist eine menschliche Reaktion – und sie lässt hoffen, dass noch mehr die Situation ernst nehmen.

»Angst in einem gewissen Maße ist generell nicht schlecht«, sagt die Gesundheitspsychologin Sonia Lippke von der Jacobs-Universität Bremen. »Sie kann uns mobilisieren, so dass wir uns schützen und Maßnahmen ergreifen, die Menschen helfen, gesund zu bleiben und das Ansteckungsrisiko zu verringern.« Das Wichtigste dabei sei aber, das Gefühl der Kontrollierbarkeit und die Zuversicht zu behalten.

Angesichts der aktuellen Modellrechnungen ist Zuversicht berechtigt. Es mag verunsichern, dass Behörden und Landesregierungen sich gezwungen sehen, strenge Regeln zu erlassen. Doch Forschungen zeigen, dass die strikten Maßnahmen wirken können. Die Herausforderung besteht nun darin, trotz Einschränkungen als Gesellschaft weiter zusammenzustehen.

Anm. der Redaktion: Die simulierte Zahl an Menschen, die laut Neil Fergusons Studie an einer Virusinfektion sterben könnten, haben wir in einer vorherigen Version mit ungefähr 510 000 Menschen in Großbritannien und zirka 2,2 Millionen Menschen in den USA angegeben. Diese Angabe muss jedoch 250 000 beziehungsweise 1,2 Millionen lauten. Die vorherige Angabe entspricht den Werten, wenn keine Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie ergriffen werden. (22.03.2020)

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