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Serie: Kuriose Experimente am Menschen: Für die Wissenschaft ans Kreuz genagelt

Um herauszufinden, woran Jesus Christus gestorben sein könnte, experimentierten Forscher unter anderem mit Leichenteilen und Schaufensterpuppen. Doch die wichtigste Rolle spielt bis heute ein berühmtes Stück Stoff.
Kreuzigungsgruppe

Jedes Jahr zu Ostern gehen Bilder eines schaurigen Spektakels um die Welt: Einige philippinische Katholiken stellen die Passion Christi nach und lassen sich im Gedenken an die Hinrichtung Jesu ans Kreuz schlagen. Als Römer verkleidete Gläubige treiben dazu Nägel durch die Hände und Füße ihrer Kollegen. Das Volksfest am Karfreitag gilt als Publikumsmagnet – tausende Touristen aus dem In- und Ausland reisen jedes Jahr zum Beispiel in das Dorf San Pedro Cutud an. Eines der Heilanddoubles soll der Kreuzigungsgruppe in diesem Jahr (2019) bereits zum 33. Mal angehört haben. Der Vatikan hält wenig von dem brutalen Ritual und verurteilt es regelmäßig. Die lokalen Behörden fordern die Teilnehmer zumindest auf, die Nägel zu desinfizieren und sich gegen Tetanus impfen zu lassen.

Doch nicht nur katholische Eiferer (und Mel Gibson) stellen die spezielle antike Art der Hinrichtung nach. Auch Wissenschaftler probieren bis heute den Tod am Kreuz aus, um historische Fragen zu klären. Die wohl wichtigste: Wie stirbt man dabei eigentlich?

Der Ursprung der Hinrichtungsmethode lässt sich nur schwer verfolgen. Als sicher gilt, dass schon die Assyrer, die Phönizier, die Perser und später auch die Griechen Verurteilte an einen Pfahl banden und sie ihrem Schicksal überließen, was über kurz oder lang den Tod zur Folge hatte. Wie genau die Prozedur in dieser Zeit aussah, darüber schweigen die zeitgenössischen Quellen größtenteils. Die Römer schließlich übernahmen die Methode und nutzten sie zusätzlich als Propagandainstrument. Folterelemente sollten ein langes Leiden garantieren und somit abschrecken. So wurden die Delinquenten in der Regel vor der eigentlichen Exekution brutal ausgepeitscht. Aufständische, Seeräuber oder entlaufene Sklaven landeten zu Tausenden am Kreuz, beispielsweise nach dem Aufstand des Spartakus 71 v. Chr. Und auch Jesus galt als politischer Rebell.

Schmerzhafter Glaube | Karfreitags lassen sich manche Gläubige auf den Philippinen ans Kreuz nageln, um die Leiden von Jesus Christus nachzuempfinden.

Tote kreuzigen

Ob die Erfinder der Kreuzigung eine bestimmte Todesart beabsichtigten, wissen wir nicht. Vermutlich ereilte viele Verurteilte allein durch Schmerz und Erschöpfung ein Kreislaufkollaps. Andere sollen tagelang gelitten haben. Die vier Evangelisten sind sich einig, dass Jesus nur wenige Stunden am Kreuz gehangen habe. Was genau aber medizinisch passierte, darüber informieren weder biblische noch andere antike Quellen – genug Stoff und Raum für passionierte Wissenschaftler, um über die Todesursache zu spekulieren.

Einer der Ersten, der sich experimentell mit der Kreuzigung beschäftigte, war der französische Arzt Pierre Barbet. Der 1884 geborene Katholik nahm an, dass sich der Gekreuzigte immer wieder leicht aufrichten musste, um atmen zu können. Hatte er dazu nicht mehr die Kraft, so erstickte er. Diese und weitere Thesen wollte Barbet in den 1930er Jahren auch in der Praxis untersuchen. Dafür bediente er sich nicht gleich ganzer Menschen, sondern zunächst nur einzelner Körperteile. So nagelte er im St. Josephskrankenhaus in Paris amputierte Arme auf Holz und beschwerte diese mit Gewichten. Anhand der Versuchsanordnung und einiger mathematischer Berechnungen wollte er herausfinden, welche Zugkräfte auf den Körper – und insbesondere auf die Handflächen – am Kreuz wirkten. Sein Ergebnis: Die Nägel können unmöglich durch die Handflächen geschlagen worden sein, da sie sonst zwischen den Fingern herausgerissen worden wären. Stattdessen vermutete er, dass sie einen bestimmten Punkt an der Handwurzel durchdrungen haben müssen.

Um der Todesursache auf den Grund zu gehen, beließ er es dann jedoch nicht nur bei Gliedmaßen, sondern kreuzigte den Leichnam eines alten Mannes – »den am wenigsten hässlichen«, den er finden konnte, wie er in seinem Buch zu den Experimenten von 1937 verrät. So rekapitulierte er, dass Jesus an den beiden Nägeln hängend eine zusammengesunkene Position am Kreuz eingenommen haben müsse und sich der Körper, um atmen zu können, regelmäßig heben und senken musste. Die Arme hätten dabei in einem Winkel von etwa 65 Grad zum senkrechten Pfahl des Kreuzes gestanden.

Lebendige kreuzigen

Die These vom Erstickungstod des Erlösers hält sich bis heute hartnäckig, ist aber bei Weitem nicht unwidersprochen. Denn Barbet wählte eine Position des Gekreuzigten, für die es keine Quellen gibt – genau genommen gibt es überhaupt keine Quellen für die ganz konkrete Haltung am Kreuz. Als sein entschiedenster Gegner positionierte sich der US-Amerikaner Frederick Zugibe, der 2013 im Alter von 85 Jahren starb. »Ich habe Barbet nie getroffen, aber wir hätten uns bestimmt geprügelt«, sagte er in einem Gespräch mit »ZEIT Wissen«.

Kreuzigungsexperiment | Frederick Zugibe wurde vor allem durch ein Experiment berühmt: Er »kreuzigte« Freiwillige, um sie medizinisch zu untersuchen und herauszufinden, wie Jesus am Kreuz gestorben sein könnte.

Obwohl er als Rechtsmediziner ebenfalls Zugang zu Leichen hatte, kreuzigte er für seine Privatforschung ausschließlich lebende Menschen – allen voran Anhänger einer religiösen Gemeinschaft in seinem Wohnort, seine Söhne und andere Familienmitglieder. Allerdings verzichtete er auf Nägel und band die Männer stattdessen mit Seilen an ein 2,3 Meter großes Kreuz, das er sich extra anfertigen und in seiner Garage hatte aufstellen lassen. Die Hände der Probanden steckten in am Querbalken befestigten Handschuhen. Ein Gurt fixierte die Füße so, dass die Sohlen flach auf dem Balken aufsaßen. Der Oberkörper, der das Kreuz nicht berührte, nahm somit eine nach vorn gekrümmte Haltung ein.

Zugibe beobachtete dann die Vitalfunktionen seiner Probanden, hörte in regelmäßigen Abständen den Herzschlag ab, zeichnete ein EKG auf, nahm den Puls, maß den Blutdruck und verglich Blutchemiewerte. Außerdem protokollierte er äußere Anzeichen der körperlichen Belastung wie Muskelzucken und Schweißausbrüche. Dabei stand er in ständigem Austausch mit dem Gekreuzigten. Für den Notfall stand immer ein Defibrillator bereit. Das Experiment dauerte zwischen 5 und 45 Minuten – je nachdem, wann die Probanden es abbrachen.

In der Regel klagten die Versuchspersonen zuerst über Schmerzen und Krämpfe in den Armen und Schultern, später auch in den Beinen. Atembeschwerden hingegen konnte Zugibe nicht feststellen, der Sauerstoffgehalt im Blut sank nicht. Zu keinem Zeitpunkt veränderten die Probanden ihre Haltung, um sich das Atmen zu erleichtern. Eher versuchten sie, durch Bewegungen Schmerzen zu lindern. Da sich aus der Kreuzigung allein für Zugibe keine Umstände erschließen ließen, die zum Tod führten, schlussfolgerte er, dass die gesamte Prozedur einschließlich der Folter – im Fall Jesu etwa das Auspeitschen, die Dornenkrone und die Anstrengungen auf dem Leidensweg – entscheidenden Einfluss auf das Sterben ausgeübt haben müssen. Er vermutete, dass die Strapazen zu enormem Flüssigkeitsverlust, Nervenschädigungen, Flüssigkeitsansammlungen in der Brust und schließlich zu einem Zusammenbruch des Blutkreislaufs durch einen hypovolämischen Schock geführt haben. Ohne Gegenmaßnahmen ist so der Tod unausweichlich.

Heiliges Dilemma

Barbets und Zugibes Versuchsreihen veranschaulichen sehr gut das Dilemma des Themas. Zum einen sind ihre Imitationen – aus nachvollziehbaren Gründen – unvollständig. Sie haben nie eine Kreuzigung von Anfang bis Ende beobachten können. Zum anderen basieren sämtliche wesentlichen Teile ihrer Untersuchungen auf nicht gesicherten historischen Fakten. Vermutlich motivierte sie zu einem nicht geringen Anteil der christliche Glaube, denn beide Forscher waren strenge Katholiken. Ihre Informationen zur Kreuzigung bezogen sie aus dem Neuen Testament. Zugegebenermaßen befindet sich hier die ausführlichste Beschreibung einer Hinrichtung dieser Art aus der Antike. Doch ob Jesus wirklich so gestorben ist, lässt sich nicht belegen. Weitere historische Quellen und archäologische Befunde spielen in ihren Arbeiten kaum eine Rolle.

Symbolisch für diesen Zwiespalt ist ein berühmtes Stück Stoff: das Turiner Grabtuch. In diesem knapp fünf Quadratmeter großen Leinengewebe soll Jesus nach der Kreuzigung ins Grab gebettet worden sein. Auf ihm zeichnet sich ein bärtiger Mann mit verschränkten Armen in Vorder- und Rückansicht ab. Das Gesicht ähnelt den üblichen Jesus-Abbildungen. Dunkle Flecken werden als Blutspuren etwa an den Händen, Füßen und an einer Seite des Messias interpretiert. Es wurde erstmals im 14. Jahrhundert erwähnt – eine Radiokarbondatierung aus dem Jahr 1988 legt auch seine Fertigung in diese Zeit – und befindet sich heute im Dom der italienischen Stadt Turin. Selbst wenn die katholische Kirche das Tuch nicht als Reliquie anerkennt, so gilt es doch unter vielen Gläubigen als echt.

Katholische Forscher, unter ihnen selten Historiker, versuchen in ihrer Freizeit regelmäßig, diese Annahme mit wissenschaftlichen Studien zu untermauern. Doch erscheinen die selbst ernannten Sindonologen (vom altgriechischen Wort für Leichentuch) häufig als eingeschworene Gralshüter, die eher den Mythos als ergebnisoffene Forschung verteidigen. Die Echtheit des Tuchs ist zu einer eigenständigen Glaubensfrage geworden.

Turiner Grabtuch | Das Turiner Grabtuch gilt als Reliquie, die aber von der katholischen Kirche nicht offiziell anerkannt wird. Es soll das Abbild des toten Jesus zeigen, der angeblich in dieses Laken gehüllt worden war.

Barbet und Zugibe schenkten dem Tuch große Aufmerksamkeit. Sie versuchten einerseits, es als Beweismittel für ihre Theorien heranzuziehen. Andererseits entsteht der Eindruck, dass sie mit ihren Ideen auch die Echtheit des Tuchs belegen wollten. So las der französische Mediziner etwa aus dem angeblichen Abdruck der Handwunden Jesu, dass sich der Gekreuzigte während des Atmens gleichförmig bewegt haben müsse, da der Fleck so aussehe, als sei das Blut in zwei verschiedene Richtungen geflossen. Außerdem rekonstruierte er den Winkel zwischen Arm und Körper anhand der Blutflecken auf dem Tuch.

Blutende Schaufensterpuppe

Bis heute ist das Grabtuch Inhalt experimenteller Forschung. 2018 veröffentlichten der Forensiker Matteo Borrini von der Liverpool John Moores University und der Chemiker Luigi Garlaschelli von der Universität Pavia im Fachblatt »Journal of Forensic Sciences« eine Blutfleckenanalyse für das Turiner Grabtuch. Dafür mussten sie auf Fotos zurückgreifen, da die Kirche das Gewebe unter Verschluss hält und der Öffentlichkeit sowie der Wissenschaft nur äußerst selten präsentiert. Die beiden Italiener konzentrierten sich besonders auf die Wunden an der linken Hand, aus der Blut über den Unterarm geflossen sei, und auf die Seite, in die ein römischer Soldat nach dem Johannesevangelium die so genannte Heilige Lanze gebohrt haben soll.

Für ihre Forschung imitierten die Forensiker entsprechende Wunden: Zum einen befestigten sie am linken Handrücken eines Freiwilligen eine Kanüle, durch die menschliches Blut aus einer Konserve über den Arm lief. Zum anderen befestigten sie einen mit Kunstblut getränkten Schwamm auf eine schmale Holzleiste und drückten diese in einen Schaufensterpuppentorso, um die Verletzung durch die Lanze nachzustellen. Schließlich legten sie sowohl Proband als auch Torso auf ein grabtuchähnliches Stück Stoff, um Blutflecken zu erhalten.

Die italienischen Wissenschaftler kamen zu einem eindeutigen Ergebnis: Ein liegender Jesus hätte solche Abdrücke nicht hinterlassen können. Die Wunden passen nicht zu dem Muster, das auf dem Tuch zu finden ist. Beispielsweise zeige die Analyse des Rinnsals, das aus der Nagelwunde am Handrücken über den Unterarm floss, dass ein Mensch gestanden haben müsse, um einen solchen Abdruck zu hinterlassen, wie er auf dem Grabtuch zu finden ist. Gleiches gilt für die Verletzung, die der Lanzenstich hervorgerufen haben soll. Übrigens hat das italienische Forschergespann bereits 2014 auf ähnliche Weise Versuche durchgeführt und herausgearbeitet, dass Jesus – folgt man den Spuren auf dem Grabtuch – an einem Y-förmigen Kreuz gestorben sein müsse.

Sindonologen reagierten abweisend auf die neuen Resultate der Studie. Zum einen bemängelten sie, dass ausschließlich Fotos als Vergleich zur Verfügung standen. Zum anderen halten sie die Forscher nicht für ausgebildet genug auf dem Gebiet der Blutanalyse. Außerdem kritisierten sie, dass man den malträtierten Körper des Gekreuzigten nicht mit einer Schaufensterpuppe nachstellen könne. Amerikanische Forscher vom Turin Shroud Center in Colorado positionierten sich auf bewährte Weise: Sie schnallten Freiwillige, die Jesus sehr ähnlich gesehen haben sollen, ans Kreuz, ließen sie unterschiedliche Haltungen einnehmen und tränkten ebenfalls künstliche Wunden mit Blut. Die Ergebnisse ihrer Versuchsreihe sind leider noch nicht publiziert. Wir dürfen also weiter gespannt sein.

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