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Warkus' Welt: Philosophie im physikalischen Gewand

Schon vor Jahrtausenden griffen Philosophen auf Vorstellungen von Atomen und Materie zurück, um die Welt und das menschliche Handeln zu erklären. Die Theorien muten modern an – durchgesetzt haben sie sich aber nicht, berichtet unser Kolumnist.
ein illustriertes, von Licht bestrahltes Atom
Physikalische Überlegungen haben schon früh philosophische Theorien beflügelt.
Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

Stellen Sie sich Folgendes vor: Das Universum ist ein unendlicher, leerer Raum, der sich in alle Richtungen gleichmäßig erstreckt. Alles im Himmel und auf Erden besteht aus winzigen, minimal großen Materieteilchen, die keine Eigenschaften außer ihrer Anordnung im Raum haben. Sie sind zusammengesetzt zu unendlich vielen unsichtbaren und unteilbaren Atomen. Durch die Vielzahl der möglichen Kombinationen gibt es eine ungeheure, allerdings endliche, Menge möglicher Atomarten. Ihr jeweiliger Aufbau aus den winzigen Teilchen ergibt eine charakteristische Struktur, die wiederum bestimmt, welche Atome sich miteinander verbinden können und wie.

Alle Atome bewegen sich geradlinig und mit der gleichen (sehr großen) Geschwindigkeit. Manchmal passieren minimale, zufällige Abweichungen von der geraden Bahn; so hat es sich möglicherweise überhaupt erst ergeben, dass sie miteinander agieren, obwohl sie alle sich am Anfang der Zeiten parallel zueinander bewegten. Sichtbare Körper bestehen aus Atomen, die in ihrem Inneren herumsausen und miteinander kollidieren, und schwingen deswegen. Alle ihre Eigenschaften sind durch die Anordnung der Atome bestimmt.

Überhaupt lassen sich sämtliche Vorgänge durch die Interaktion von Atomen erklären, zum Beispiel Sinneswahrnehmungen. Gegenstände geben nach außen unsichtbar dünne Häutchen aus Materie ab, die das Muster der darunterliegenden Atome bewahren. Sie interagieren mit den Augen von Beobachtern und geben so ein Erscheinungsbild an sie weiter. Die Seele des Menschen besteht ebenfalls aus Atomen, denn sonst könnte sie keinen Einfluss auf den Körper haben und keine äußeren Eindrücke empfangen. Manche der Bilder-Häutchen dringen direkt in die Seele ein und können sich dort mit Vorstellungen verbinden, für die wir auch Wörter finden. Obwohl die Häutchen zuverlässige Zeugen der Gegenstände sind, von denen sie ausgestrahlt werden, können Fehler passieren, etwa dass sich ein Häutchen vom Oberkörper eines Menschen mit einem vom Rumpf eines Pferdes verbindet. So ergibt sich ein Trugbild, das wir »Zentaur« nennen, obwohl es so etwas gar nicht gibt.

Da nun aber die Seele aus Atomen besteht, bedeutet der Tod und damit der physikalische Zerfall des menschlichen Leibes auch das Ende der Seele. Mit dem Ende des Lebens hören wir auf wahrzunehmen. Der Tod ist, streng genommen, überhaupt kein Gegenstand, sondern wir bilden uns dies nur ein, weil wir ein Wort für ihn haben. Es gibt insbesondere keinen Grund, sich um ein Leben nach dem Tod und mögliche Strafen für irdisches Fehlverhalten zu sorgen. Dass es überhaupt so viele Menschen gibt, die Angst vor so etwas haben, liegt daran, dass Menschen irgendwann im Lauf der Geschichte das Recht und die Strafjustiz erfunden haben und die Tendenz dazu hatten, ihre eigenen Vorstellungen von Gerechtigkeit an Bilder von Naturphänomenen zu knüpfen.

Unser Leben findet also völlig im Bereich des Stofflichen statt und es gibt keinen Grund, mehr anzustreben als die Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse sowie den Zustand von Ruhe und Glück, der aus der sich daraus ergebenden Abwesenheit unangenehmer Empfindungen entsteht. Das höchste der Gefühle ist es, frei von Angst, Schmerz, Hunger, Durst und so weiter zu sein. Strebt man etwas Unnatürliches an, wie etwa Ruhm, macht man sich damit eher unglücklich, denn wahre Befriedigung in Form eines gestillten Bedürfnisses entsteht daraus niemals. Obwohl man keine Höllenstrafen zu fürchten braucht, sollte man keine Verbrechen begehen und auch niemanden betrügen oder ausbeuten, denn die Angst, dafür noch zu Lebzeiten Konsequenzen zu erfahren, verschwindet nie so ganz.

Dies ist – stark verkürzt – eine der populärsten Lehren für das gute Leben, die die europäische Denktradition je hervorgebracht hat: die des griechischen Philosophen Epikur, der etwa 40 Jahre nach Aristoteles von zirka 341–270 v. Chr. lebte. Überliefert und ergänzt wurde die Lehre unter anderem durch den Römer Lukrez (zirka 95–55 v. Chr.). Etwa ein halbes Jahrtausend lang ist Epikurs Schule nachzuweisen, obwohl sie erbitterte Gegner unter den Anhängern anderer philosophischer Strömungen wie etwa des Stoizismus hatte. Da in seinem Weltbild nichts außer Materie (und ihrer Abwesenheit) vorkommt, spricht man von einer radikal materialistischen Philosophie. Wie bei vielen philosophischen Fachbegriffen weicht die umgangssprachliche Bedeutung etwas ab – »materialistisch« im Sinne des Ziels, Geld und Gut aufzuhäufen, ist dieses Denken gerade nicht.

Bis heute ist es faszinierend, wie modern die zu Grunde liegenden physikalischen Theorien anmuten, obwohl sie bloß spekulativ, ohne experimentelle Grundlage entstanden und letztlich, vom heutigen Standpunkt aus gesehen, empirisch falsch sind. Durchgesetzt haben sich Epikurs Lehren zu Glück und Bedürfnisbefriedigung offensichtlich nicht. Man kann aber zumindest in einer Hinsicht behaupten, dass die Deutschen heutzutage mehrheitlich Epikureer sind: An ein Leben nach dem Tod glauben Umfragen zufolge nur noch 38 Prozent.

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