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Die Entdeckung der Zukunft: Zwei Historiker erklären, wie der Glaube an den Fortschritt entstand

Bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts glaubten Generationen von Menschen, dass das Ende der Welt unmittelbar bevorstünde. Erst als Gelehrte die biblische Endzeitvorstellung in Frage stellten, wurde der Weg frei für das Konzept einer offenen, selbst gestaltbaren Zukunft – und für den Glauben an den Fortschritt.
Das Ende der Endzeit
Im Titelthema der aktuellen epoc-Ausgabe (1/11) erläutern die beiden Historiker Achim Landwehr (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf) und Lucian Hölscher (Ruhr-Universität Bochum), welche Zukunftsvorstellungen es im Mittelalter gab und wie das Raum-Zeit-Kontinuum in der Frühen Neuzeit entstand.

Auch wenn wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts meinen, ohne eine Zukunftsvorstellung kaum leben zu können, offenbart der Blick auf die europäische Geschichte: Sich selbst in eine Zukunft hineinzudenken, gehört keineswegs zur natürlichen Grundausstattung des Menschen. Das bedeutet aber nicht, dass für die Menschen früherer Jahrhunderte künftige Zeiten keine Rolle spielten! Im Mittelalter beispielsweise machte man sich sehr viele Gedanken über das, was auf einen zukommen würde. Allerdings gingen die damaligen Menschen davon aus, dass sich die Vergangenheit wiederholen würde.

Während wir heute davon überzeugt sind, uns in die Zukunft "hineinzubewegen", sahen unsere Vorfahren diesen Zeitraum als etwas, das auf sie zukommt. Sie glaubten fest an das baldige Ende der Welt. Vor der Aufklärung bildete die Apokalypse das zentrale Ereignis, auf das alle Entwicklung zusteuerte. Zweifel daran konnten kaum aufkommen, da selbst die Bibel dieses Schicksal als Jüngstes Gericht und Wiederkehr Christi prophezeite. Die Endzeitvorstellung war somit ein fester Bestandteil des biblischen und christlichen Geschichtsverständnisses, wie es sich bis weit in die Frühe Neuzeit hinein finden lässt.

Von etwa 1650 an änderte sich jedoch allmählich die Zukunftsvorstellung. Botaniker und Geologen datierten die Geschichte der Menschheit immer weiter in die Vergangenheit zurück und stellten das bevorstehende Ende der Welt in Frage. Sie machten allmählich die Gegenwart zur Grundlage von Entscheidungen und stellten sich die Zukunft als "offen" vor. Das revolutionäre an diesem Bewusstseinswandel war, dass die Menschen mit einer tief verwurzelten Glaubensvorstellung brachen und die Zukunft von der Domäne Gottes in die des Menschen verlagerten.

Diese Entwicklung wirkte sich auf alle Lebensbereiche aus, wie die Gesundheitspolitik, das Versicherungswesen und die Demografie. Dieser Prozess bildete die Grundlage für den Fortschrittsoptimismus, der die Gesellschaft bis in die 1960er Jahre prägen sollte. Seitdem gewinnen Zukunftsmodelle immer mehr an Bedeutung, die ihre Parallelen zu mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Vorstellungen kaum verhehlen können. Die Auseinandersetzung mit dem dominanten Zukunftskonzeption der Moderne öffnet dabei die Augen über die heutige Situation.

Über epoc:
epoc, das Magazin für Geschichte, Archäologie und Kultur, erscheint seit 2004. Sechsmal pro Jahr vermitteln Forscher und Fachjournalisten auf mehr als 100 Seiten fundiert und unterhaltsam Wissen über historische Themen und zeigen spannende Zusammenhänge aus Kunst, Kultur und Geistesgeschichte auf. Ein jeweils umfassend beleuchtetes Titelthema zu zentralen Ereignissen, Persönlichkeiten und Kulturen der Welt sowie spannende Reportagen und Essays überzeugen alle zwei Monate rund 40 000 Leser.

Unter www.epoc.de finden alle historisch Interessierten Kurzmeldungen und aktuelle Ausstellungstipps. Ein Newsletter und die Chronologs, das Blogportal für Fragen zur Vergangenheit und ihrer Erforschung, halten Sie täglich auf dem Laufenden.

Abdruck honorarfrei bei Quellenangabe: epoc, 1/2011
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